Im Frühjahr schrieben wir nach der präsidialen Ausrufung des „Jetzt erst Recht!“-Semesters einen offenen Brief an das Präsidium. In diesem wollten wir der Universitätsleitung zum einen Facetten der Lebensrealitäten von Studierenden während der ersten Einschränkungen durch die Pandemie vermitteln.
Außerdem sprachen wir uns, so wie Studierendenorganisationen in ganz Deutschland, für eine solidarische Herangehensweise an die Krise aus. Wir forderten vom Präsidium, sich in den entsprechenden hochschulpolitischen Instanzen in Thüringen und ggf. bundesweit für die am stärksten von der Situation betroffenen Studierenden einzusetzen. Zuallererst für schnelle Hilfe und Unterstützung für sozial und ökonomisch schwächere Studierende, um finanzielle Not zu lindern — mit besonderer Rücksicht auf internationale Studierende und ihre spezielle rechtliche Situation als Nicht-Staatsbürger*innen. Weiterhin plädierten wir mit Studierenden deutschlandweit für eine Aussetzung der Regelhaftigkeit des Studiums angesichts der Ausnahmesituation. Also eine Aussetzung der Zählung des Sommersemesters als Fachsemester mit den festgelegten Studiensemesterzahlen und den damit verbunden Konsequenzen wie Verlust von Bafög-Förderung und Langzeitstudiengebühren.
Um diese Anliegen in ihrer Dringlichkeit zu unterstreichen und Studierende in diese sie betreffenden hochschulpolitische Prozesse einzubinden, luden wir sie dazu ein, den Brief mit zu unterzeichnen.
200 Studierende schlossen sich den Forderungen an. Wir blieben weiter im Gespräch mit der Studierendenvertretung StuKo und dem Präsidium.
Im öffentlichen Diskurs meldeten sich Lehrende, Studierende und Gewerkschaften aller Bundesländer zu Wort. Auch dem großen Druck auf lokaler Ebene und in sozialen Netzwerken ist es wohl zu verdanken, dass das Bundesministerium schließlich doch noch ein finanzielles Notpaket für Studierende in prekärer finanzieller Situation startete. An der Bauhaus-Uni wurde auch ein Fonds von Seiten des Freundeskreises eingerichtet. Für beide Fonds mussten Studierende allerdings genaue Nachweise über ihre finanzielle Bedürftigkeit erbringen — eine große Hürde für Menschen, die in diesen Monaten existenzielle Sorgen hatten. Zumindest gab es an unserer Universität besondere Hilfsangebote für Internationals — wir hatten auch auf die spezielle Situation jener Studierenden aufmerksam gemacht, die in dieser globalen Krise nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren konnten, und deren finanzielle und rechtliche Situation besonders unsicher war.
Die Corona-Krise hat globale und soziale Ungleichheiten schmerzlich offengelegt. Auch wurde offensichtlich, wie konstruiert und menschengemacht, wie veränderbar und offen unsere sozialen Institutionen sind, und wie schnell das öffentliche Leben, Gesetze und Regelhaftigkeiten mit entsprechendem Willen umgestaltet werden können. Vor allem in der ersten Phase der Ungewissheit von März bis Mai 2020 zeigte sich auf unterschiedlichen Ebenen deutlich, nach welchen Interessen und Werten politische und öffentliche, private und wirtschaftliche Institutionen handelten. Vielen Menschen wurde auch bewusster, was sie sich von eben diesen Institutionen erwarten, und welche Verantwortung diese tragen.
Das von so vielen wie auch von uns geforderte “Solidarsemester” sollte an die Verantwortung einer Universitätslandschaft appellieren, die wir als öffentlich, der freien Lehre und Forschung in Einheit und der Kunstfreiheit verpflichtet, als offen zugänglichen und diskriminerungsfreien Ort verstehen wollen. Diese Idealform der Universitäten positioniert sich im Gegensatz zur “unternehmerischen” Universität, unabhängig von ökonomischen Interessen und arbeitsmarktbezogener Ausbildung einförmiger Absolvent*innen. Hochschulpolitik kann dabei auch von Studierendenvertreter*innen geprägt werden, beziehungsweise haben zuletzt die Bildungsstreiks 2009 angesichts der Einführung der Studiengebühren gezeigt, dass auch die Masse an Studierenden durchaus politische Kraft hat.
Der gesamte Forderungskatalog des “Solidarsemesters” hätte ein starkes hochschulpolitisches Bekenntnis zu einem Universitätsideal jenseits des “Unternehmerischen” erfordert.
“Solidarität” bedeutet eben nicht, sich nach den Bedürfnissen einer starken Mehrheit zu richten, und den Bedürfnissen einer schwachen Minderheit mit Wohltätigkeit zu begegnen. Solidarität bedeutet die Absicherung des Ganzen, den möglichen Ausgleich der Nachteile von Menschen zu suchen, die auf welche Weise auch immer nicht gleichgestellt sind. Solidarität sichert ein hürdenloses Anrecht auf Unterstützung, ohne Menschen die in Not sind, zu entblößen. Solidarität bedeutet dabei auch manchmal, auf eigene Privilegien zu verzichten, um anderen Menschen gleiche Teilhabe zu ermöglichen [1]. Wären die Forderungen des “Solidarsemesters” umgesetzt worden, hätte allerdings kein*e einzige*r Studierende*r daraus einen Nachteil gezogen oder Privilegien eingebußt. Hätte eine breite Masse der Studierenden im Frühjahr 2020 Solidarität mit den weniger privilegierten Studierenden gezeigt, wären die Forderungen womöglich auch umgesetzt worden. Und nicht zuletzt, wären Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichstellung im Zugang zu Bildung Interessen der Hochschulen und ihrer Präsidien, wären die Forderungen vor den Länderministerien und im Bund lauter zu hören gewesen.
“Solidarität für eine offene Gesellschaft” [2] an der Bauhaus-Universität wäre dann nicht nur ein Lippenbekenntnis. Wie zum Beispiel der Leiter der Hilfsorganisation medico Thomas Gebauer sagt, “Solidarität verlangt nach gesellschaftlichen Institutionen, die für Ausgleich und Teilhabe und damit für ein würdevolles menschliches Zusammenleben sorgen.[…] Solidarität ist weit mehr als das Gefühl innerer Verbundenheit. Solidarität steht für die Verpflichtung aller, für das Ganze einzustehen.”[3]
In anderen Bundesländern und an anderen Universitäten wurden Forderungen des Solidarsemesters, zum Beispiel nach der Nicht-Zählung als Fachsemester, umgesetzt, während in Weimar das “Jetzt-Erst-Recht”-Semester startete.
Erst jetzt schaffen wir es auch, gewissermaßen einen Zwischenstrich zu ziehen. Erst in einigen Jahren werden wir alle die langfristigen Auswirkungen der im Frühjahr 2020 getroffenen Entscheidungen einordnen können.
Wer und wie viele haben die Universitäten verlassen müssen? Wer und wie viele nehmen in der jetzigen Situation erst gar kein Studium auf, wenn sie es nur mit prekären und unsicheren Arbeitsverhältnissen und ohne soziale Absicherung aufnehmen können? Wer und wie viele werden in Zukunft durch die krisenbedingt privat, auf Banken oder vom Staat aufgenommenen Studienkredite in finanzielle Notlagen geraten?
Wie viel wird Bildung und Forschung der Politik in den nächsten Jahren wert sein? Wie viele Studiengänge und Stellen werden gestrichen, wie viele Labore geschlossen, wie viele Standorte gefährdet? Welchen Wert werden Kunst und Kultur haben? Wie stark werden sich die Universitäten als “unternehmerisch” positionieren?
Wie wollen wir studieren und lehren, wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben? Wie begegnen wir diesen offenen Wunden der Ungleichheit, die wir aufgrund der Corona-Pandemie kaum noch ignorieren können?
Die bundesweite “Solidarsemester”-Initiative hat diesen Fragen eine Öffentllichkeit gegeben. Studierende wurden für Ungleichheiten untereinander und ökonomische und soziale Ungleichheiten sensibilisiert; und einige Studierende dahingehend, die Universität als einen öffentlichen, politischen Raum wahrzunehmen, in dem sie ihre Stimme erheben können.
Gleichzeitig hat die Situation offengelegt, dass das Verständnis solidarischer Konzepte an Universitäten langfristig gestärkt werden könnte, sowie die Studierenden ihrer politischen Macht besser Gewahr werden sollten.
Die Folgen des Frühjahrs 2020 und der darauf folgenden Monate werden sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Es ist zu vermuten, dass die Ungleichheit die wir heute mehr denn je wahrnehmen, nicht durch Untätigkeit verschwinden wird. Solange sich alle Beteiligten im universitären System nicht als solidarische Einheit verstehen, die bereit ist, für offene, freie Wissenschaft, Kunst, Forschung und Lehre einzutreten, ist zu bezweifeln, dass diese Ideale aufrecht erhalten werden können. Solange die Universitäten in der Bildung ihrer Absolvent*innen nicht auch als Institution “Solidarität” als aktives Konzept vorleben und so vermitteln, ist außerdem zu bezweifeln, dass unsere und die folgenden Generationen resilient den auf uns zukommenden Wirtschafts‑, Finanz‑, Gesundheits- und Klimakrisen begegnen können.